Emanuelle Vakant
Roberto Ohrt
Das Ende des 19. Jahrhundert könnte für einige Zeitgenossen der viktorianischen Welt bequem gewesen sein, ungestört im Wintergarten in einem Sessel, der seinen Rücken wie das Rad eines farblosen Pfaus aufschlägt, im Ohr das Knistern des Basts und hinter dem Fenster die Kommunikation der Äste zwischen den Bäumen. Am Anfang des Jahrhunderts gab es diesen kunstvoll geflochtenen Stuhl noch nicht, die Wege waren langsamer, die Gespräche komplizierter und das Handwerk hatte keinen Anlass, sich gegen die Produkte aus der Industrie zu rüsten. Zu der Zeit fand die „schöne Leserin“ im London Magazine hin und wieder auch einen Essay von Thomas De Quincey. Er adressierte explizit die weibliche Leserschaft und sprach mit der Stimme eines Mannes, dem das Bauen instruktiver Reflexionen so sehr zur Gewohnheit geworden ist, dass seine Sätze ohne viel Zutun lang und länger werden: Stichwort, Beobachtung, Zitat, Komma, Adjektiv, Gegenstand. Alles geht mit einer gewissen Selbstverständlichkeit dahin, steigt ohne Mühe in die komplexesten Konstruktionen ein. Und während er dem Ziel seiner Ausführungen Schritt für Schritt näher kommt, verbergen seine Routine, Sorgfalt und Umsicht (wohl auch ihm selbst), dass er dem Bauwerk am anderen Ende des Fadens das Vertrauen in die einfache Erklärbarkeit der Welt schon wieder entzogen hat.
Dass die Bekenntnisse eines englischen Opiumessers (er war 36 Jahre alt, als der erste Teil seiner Confessions im London Magazine erschien) vom Drogenkonsum handelten, war für die „Leserin“ von 1821 offenbar nicht sonderlich beunruhigend; ganz anders die dunklen Ahnungen und unerträglichen Ängste, die als ein Motiv seltsamer Regelmäßigkeit seinen Text durchziehen. De Quincey gab ganz offen zu Verstehen, seit seiner Kindheit mit unberechenbaren Abgründen zu leben, und dass sie ihre schweren Wellen immer noch an die Oberfläche seines Alltags schickten. Zwanzig Jahre nach den Confessions kam er erneut auf das Thema zurück. Diesmal nahm er als Beispiel eines jener alten Blätter zur Hand, auf dem ein Text in einem merkwürdigen Buchstabenteppich versinkt, ein Phänomen aus der Zeit der Handschriften, die nur Pergament als Träger von Texten kannten. Pergament war allerdings so selten und wertvoll, dass in den Schreibstuben immer Mangel daran herrschte, und wenn es nicht anders ging, wurde die Bestände der eigenen Bibliothek zum Rohstoffreservoir gemacht. Die Mönche wählten ein kaum noch gelesenes Buch und lösten die Schrift von dem kostbaren Träger ab, um Platz zu schaffen für ihren aktuellen Auftrag. Nicht selten löschten sie dabei einen antiken Gedanken aus, vielleicht aus dem letzten Buch, in dem er zu finden war, und ersetzten ihn durch irgendeine Litanei der christlichen Gegenwart. Doch das Leben der Buchstaben musste damit nicht zu seinem Ende gekommen sein. Manchmal traten sie – es dauerte natürlich Jahrhunderte – aus den tieferen Schichten eines Blattes wieder hervor, während die Tinte der letzten Eintragung in der entgegengesetzten Richtung unterwegs war. Auf halber Strecke verwirrten sich die mitreisenden Botschaften und ein Palimpsest entstand.
Die Papierherstellung entwickelte sich in Europa erst 15. Jahrhundert soweit, dass der neue Träger in ausreichender Menge zur Verfügung stand, und nur deshalb – damit beginnt De Quincey seine Überlegungen – wurde die Erfindung des Buchdrucks bis in die Neuzeit hinausgeschoben. „Das Geheimnis des Druckvorgangs ist tausende von Malen entdeckt worden, ehe die Menschheit etwas damit angefangen hat. Das Mysterium des Erfindens ist göttlicher Besitz des Menschen, doch die Dummheit ebenfalls. Cowper hat das höchst amüsant bewiesen, nämlich in seiner Entwicklungsgeschichte des Sofas, das zur Ausprägung seiner Endgestalt lange Generationen unsterblicher Dummheit benötigte. Auch um aus einem Schemel einen Stuhl zu entwickeln waren Jahrhunderte der Beschränktheit erforderlich. Dass die Möglichkeit überhaupt wahrgenommen wurde, einen Stuhl in der Weise zu verlängern, dass er plötzlich eine Chaiselongue oder ein Sofa war, das verdanken wir einem schöpferischen Mirakel des humanen Genius, und die älteren Generationen haben es gebührend bewundert.“
Bevor wir dem Hinweis auf Stuhl und Sofa nachgehen, dem Stichwort aus diesem anderen Text, der auf dem Schreibtisch von Thomas De Quincey lag, sei daran erinnert, dass von ihm auch ein ziemlich bizarrer Bericht vorliegt: Die letzten Tage des Immanuel Kant, eine dokumentarische Fiktion über den berühmten deutschen Philosophen, der 1804 in Königsberg gestorben war. De Quincey, damals 18 Jahre alt, wird in England bald davon gehört haben. Das Buch schrieb er mehr als 20 Jahre später, wobei er im Grunde eine Art vorsätzliches Palimpsest schuf. Er nahm den Text eines anderen Autors und schliff dessen Sätze für seine Zwecke zurecht. So konnte er im Haus des großen Aufklärers wie der schriftführende Begleiter des Todes einkehren und den alt gewordenen Geist einige Tage beobachten, bis der unvermeidbare Moment näher trat: „Zunächst wurde der Atem schwächer, dann unregelmäßig, schließlich stockte er ganz und die Oberlippe zuckte leicht. Danach folgte noch ein leiser Atemzug oder eher ein Seufzen, dann nichts mehr. Aber der Puls schlug noch einige Sekunden lang – immer langsamer und matter, bis er gänzlich aufhörte. Der Mechanismus blieb stehen, die letzte Bewegung war zu Ende und genau in diesem Augenblick schlug es elf Uhr.“
Welche Absichten De Quincey mit seinem Bericht verfolgte, wird auch nach dem präzisen Kommentar der Standuhr nicht wirklich klar. Vielleicht misstraute er einem Skeptiker, der offenbar nie von Dämonen, Visionen oder Gespenstern heimgesucht worden war, und wohl auch nicht von Gedanken ans andere Geschlecht. Vielleicht war letzteres sogar ausschlaggebend, zumal der deutsche Denker einen sonderbaren Namen trug. Jason Rhoades verband jedenfalls mit Kant – und warum sollte es De Quincey anders gegangen sein – eine unauflösbare Irritation. In der Schule hatte er das erste Mal von ihm gehört. Er sei der Begründer des modernen Denkens gewesen: „Aufklärung“, „reine Vernunft“, „Freiheit“ und allerhand andere Begriffe hätten demnach in seinem Kopf ihre Form gefunden; eigentlich so ziemlich alles, was mit einiger Selbstverständlichkeit die höchsten Werten des Westen und der modernen Welt umgibt. Doch immer wenn der Lehrer den Namen des berühmten Philosophen aussprach, merkwürdigerweise ohne mit der Wimper zu zucken, hörte er ein Wort, das im Englischen wie ein implodierender Schlag im Raum steht: Cunt, zu deutsch: Fotze – das war nun nicht nur ein „Gegenstand“, den ins Gespräch zu bringen auf jeden Fall und insbesondere vor Schülern einige vorbereitende Maßnahmen erfordert hätte; es war gleich das schlimmste all der Worte, die es für diese „Sache“ gibt. Die ganze Gewalt des Schlechten konnte es aktivieren. Mit einer gewissen Schärfe platziert (oder mit einer entsprechenden Bereitschaft aufgenommen), brachte es die extremste Verachtung zum Ausdruck und eine materielle Dichte unbekannter Substanz. Auf der Liste der Beleidigungen hält es unangefochten den ersten Platz.
Das Wort einfach auszusprechen und dann auf den diffizilen Philosophen zu verweisen, hatte seine eigene Wirkung und war sogar ein Umgang mit der Sache, während weitergehende Erfahrungen mit ihr selbst eher schwierig blieben. Jason Rhoades kam auf dieses Erlebnis zurück, als er 2004 in seiner Ausstellung My Madinah. In pursuit of my ermitage 1724 Synonyme für das weibliche Geschlecht in farbigen Lichtern unter die Decke hängen ließ. Und 1724 war tatsächlich – so wollte es der Zufall: so viele pussy words hatte er gefunden, als die Produktion der Neonschriftzüge in Auftrag gegeben wurde – das Geburtsjahr von Immanuel Kant (bei 1725 Worten wäre Giacomo Casanova im Spiel gewesen). Er brauchte nicht lange, um den Hinweis auf den Philosophen in die eigene Logik einzubauen, so etwa mit dem Buch Birth of the Cunt, eine leichte Inversion des De Quincey-Titels. Außerdem schloss er vom trockenen Metaphysiker auf die berühmte Emmanuelle, Inbegriff all dessen, was auf dem Kant-Kontinent zu fehlen schien, und es war, als ob es eine Tapetentür im Ozean gab: schon hatte er eine andere Welt betreten.
Der Softporno Emmanuelle kam 1974 in die Kinos und wurde bald zu einem Welterfolg (ganz anders eine italienische Verfilmung von 1969; sie blieb vollkommen unbeachtet). Für einige Jahre las das große Publikum den klangvollen Frauennamen wie ein Signal der neuen Freizügigkeit, die es in der Jugend zu geben schien. Später wurde das Phänomen zu einem Beispiel für die kuriosen Stilblüten und Übertreibungen der 70er Jahre (und mit dem Ungleichgewicht der beiden Zustände hatte Jason Rhoades das Stichwort aufgenommen). Die literarische Vorlage war 1959 bei Losfeld in Paris erschienen, mit einem schlichten „Emmanuelle“ auf dem Cover, und erlebte Ende der 60er Jahre schon hohe Auflagen, vor allem in der englischen Übersetzung, während der kleine Band in Frankreich (und so auch die Fortsetzungen) immer noch „sous le manteau“ verkauft werden musste – bis 1992 übrigens; dann erst wurde der schöne Name vom Index genommen. Als Autorin des Buches figurierte eine gewisse Emmanuelle Arsan, Pseudonym von Marayat Rollet-Andriane, geborene Bibidh, eine Französin thailändischer Herkunft. Das Pseudonym sollte natürlich zu der Annahme verleiten, sie habe ihre Geschichten selbst erlebt, und sie waren auch wie ein Erlebnisbericht verfasst. Dazu passend hatte sie dem ersten Buch ein kurzes Motto vorangestellt: „oder ob die Frauen, gern beschworen, nur mehr ein Wunschtraum sind für deinen Fabelsinn“ – zwei Zeilen aus dem „Nachmittag eines Fauns“ von Stéphane Mallarmé.
Emmanuelle Arsan eröffnete ihre erotischen Geschichten gern mit den Worten berühmter Dichter oder Philosophen, denn offenbar glaubte sie, dass ihre Bücher mehr als nur zeitgemäß ungezwungene Unterhaltung anboten. Die Heldin schien eine „Philosophie“ zu leben, und als 1960 der zweite Band erschien, war sie nicht weniger als die Anti-Vierge, ein Titel, der ihre Aktivität ohne Umschweife aufs Feld der Religion ausdehnte, sie vielleicht sogar zum leibhaftigen Gegenstück des Anti-Christen erhob, eine Verkörperung der Anti-Materie möglicherweise: „Die Welt ist nur real, wenn ich sie in Unordnung bringe“, unterstrich ihr poetisches Motto, diesmal von Alain Bosquet entliehen. Die Neigung zur „Unordnung“ erwies sich gleichwohl als eine erstaunlich zuverlässige Grundlage für den Übergang in die Serienproduktion. Emmanuelle lieferte bis 1990 gut zehn weitere Titel.
Jason Rhoades versuchte, so viele Emmanuelle-Filme wir nur möglich in seine Ausstellung zu integrieren, und davon gab es einige: ob nun teure oder billige Produktionen, Plagiate oder Parodien – auf allen Ebenen wurde er fündig; leichterhand kamen zwanzig, dreißig oder noch mehr Streifen zusammen. Den kleinen Kinosaal, den er in seiner „Moschee“ eingerichtete, nahm er als eine Art „Gebrauchsanweisung“ (er sagte zum einen „Muschi“, zum anderen „a manuel“), und natürlich ahnte er, dass sein Publikum all die lose geknüpften Verbindungen als unhaltbare Eselsbrücken wahrnehmen würde; vor allem von den Experten der Kritik erwartete er heftige Beschwerden. Vorsichtshalber ergänzte er die ersten ungesicherten Assoziationen um weitere Ungereimtheiten: dass Emmanuelle also in seinem „Madinah“ als eine Missionarin anzusehen sei, weibliche Widergängerin des Propheten Mohammed („Ehmmanuelle-Mmohammed“) und genau wie der Begründer des Islam auf einer langen Wanderschaft, die sich von Prüfung zu Prüfung steigern musste, bis zum Moment der absoluten Erleuchtung; daher auch die leuchtenden Worte in seinen heiligen Hallen oder – wie es im Deutschen heißt – ein Himmel voller Geigen, die Sprache jener anderen Welt, Exotik oder Erotik, im Weiteren dann der Grund des Sprechens überhaupt, die Etymologie des Cunt-Phänomens und das uferlose Sammeln einer Sache, die eigentlich einmalig sein sollte, zumindest an der Oberfläche. Jason Rhoades hatte gleichwohl nicht irgendwelche Zusammenhänge im Blick. Gerade war das Jahrzehnt der Kontext-Kunst zu Ende gegangen. Da lag noch allerhand Werkzeug zur Herstellung theoretischer Referenzen herum; das galt es zu benutzen. Und er sollte am Ende tatsächlich Recht bekommen: Einigen Journalisten standen nach der Pressekonferenz die Haare zu Berge.
Von all denen, die auf dem „Pfauen-Stuhl“ fotografiert wurden, ist Emmanuelle wahrscheinlich die bekannteste. Leicht bekleidet hat sie sich im großen Rad des Flechtwerks niedergelassen, die Beine luftig überschlagen und offen aufgestellt, sitzt passend zu dem alten Möbelstück im hellen Rüschenunterrock. Er ist ihr vom Busen abgefallen und gleitet weiter, auch an den glatten Schenkeln entlang. Ein Arm ruht unbeschwert, die andere Hand geht – fast in Denkerpose – zum Kinn hinauf. Bei ihren Lippen spielt sie jedoch mit einer schlichten Perlenkette, leicht hochgezogen und so locker aufgehängt wie die Augen auf dem Weg zum Betrachter. Zur Ergänzung des Bogens, den der Kreis des geflochtenen Throns über ihr schlägt, entfaltet grüner Farn sich unten zu den Seiten aus, fächert seinen natürlichen Schmuck und eine Bewegung auf, als würde sie, die eigentlich kaum noch bekleidet dasitzt, schon in einer prachtvollen Robe die Treppen hinab den Gästen des Abends entgegenschreiten.
Bei all dem unbeschwerten Geflatter fällt nicht sofort auf, dass ein Detail dem Chor der Versprechungen nicht ganz entspricht: ihr kurzes Haar. Zum herkömmlichen Bild der Verführung gehörten seinerzeit lange Locken oder eine kunstvoll hochgesteckte Frisur. Der seriöse Schnitt verbindet Emmanuelles Erscheinung noch einmal mit den Vorlieben der unruhigen Generation, mit den jungen Frauen, die nicht mehr den Standards folgten und andere Wege gingen, eine Ablehnung des Üblichen, die vielleicht auch mit einer gewissen Versagung kokettierte, so wie die Existentialisten in ihrer schwarzen Tracht dem Tod vertraut sein wollten oder zur eigenen Hinrichtung unterwegs waren. Darüber hinaus deutet das männlich kurze Haar eine Orientierung an, die in der Liebe keine Grenzen zwischen den Geschlechtern zieht. Wahrscheinlich verstand das breite Publikum in der Mitte der 70er Jahre diese Nuance noch nicht im vollen Umfang. Bei einigen Männern mochte sich stattdessen die Vorstellung bilden, sie hätten die Chance, das schöne Geschöpf mit einer ebenso schönen Gespielin zu erwischen (ein Standard im Porn-Genre) und somit die Aussicht auf ein doppeltes Vergnügen.
Ambivalent ist Emmanuelles Auftritt ohnehin – musste er sein, wenn der Übergang von der Andeutung zur Verführung funktionieren sollte. Doch mit welchem Ziel wurden die Widersprüche in Bewegung gebracht? Keine Frage, dass der Film mit dem Verkauf von etwas Erotik zufrieden war, ihr eingeflochten das spezifische Ungleichgewicht der herrschenden Verhältnisse, der Körper der Frau als das Objekt des Begehren: ideale Maße, unwirklich schön und für die meisten Kinogänger außer Reichweite. In der Mitte der 60er Jahre wurde mit Nacktaufnahmen noch versucht, die Grundfesten der Moral und die auf ihr ruhenden Machtstrukturen zu erschüttern, und bis zu einem gewissen Grad waren freizügigen Provokationen sogar erfolgreich, doch in den 70er Jahren hatte der Stoff schon einiges an Brisanz verloren. Emmanuelle sitzt allerdings vor der Kamera, als ob sie immer noch mit einfachen Mitteln in Sachen Befreiung unterwegs sein könnte, eine Frau der Tat, das handelnde Subjekt der nackten Fakten, die sie direkt gegen Verbote und Tabus einsetzen würde, gegen das Diktat der Enthaltsamkeit. Wahrscheinlich brachte die leichte Verspätung ihrer Mission den traditionsreichen Stuhl ins Spiel. Er dreht das Bild zur Erinnerung an den sehr viel älteren Konflikt, verleiht ihm eine gewisse Zeitlosigkeit und enthebt es der Überprüfung am aktuellen Stand der Dinge.
Der Peacock chair ist ein Erbstück der viktorianischen Epoche. Im hundertjährigen Reich der großen lustfeindlichen Herrscherin – Inbegriff des modernen Puritanismus – kam er in Mode. Gut vorstellbar, dass die Frauen des ausgehenden 19. Jahrhunderts sich mit ihren kompliziert zusammengesteckten Haaren und ihren festverschnürten Korsetts gern in dieses opulente Flechtwerk eingepasst haben. Wie all die Gardinen, Schleier und Vorhänge im Haus, die Schnörkel und Verzierungen, das Gewirke und Gehäkel, spinnt der er die Ablenkung weiter, andeutungsweise auch zu den Rüschen des Unterrocks , hauptsächlich aber zum Rückzug aus dem häuslichen Theater der Konversation, ins Fingern mit Nadel und Faden.
Das kunstvolle Objekt – eine Import aus den Kolonien – passt auch zur angelsächsischen Vorliebe für alles Handwerkliche und den Stumpfsinn der Handarbeit, die in der Zeit unmittelbar vor dem Aufbruch der Moderne die letzten ungestörten Jahre ihrer Selbstverständlichkeit erlebte. Adolf Loos konnte nicht ahnen, das seine Utopie der leeren Wände und puren Formen sehr gut und sehr bald zu einem neuen Regime der Reinlichkeit und Versagung passen sollte, vor allem als der Stil der Moderne zum Vorwand wurde, um die Kosten der Lebenswelt (und die Moderne selbst) auf ein unwürdiges Minimum herunter zu bringen. Seine Polemik gegen das Diktat der Ornamente ist dennoch berechtigt. Er sah die Leichen im Keller des viktorianischen Zeitalters, sprach von einem „Verbrechen“, das – wie er mehrfach betont – auch noch vom Staat geschützt wurde. Das Innere und Äußere der Städte war am Ende des 19. Jahrhunderts der Schauplatz eines unablässigen Geplappers (so selbstverständlich wie heute der Gebrauch des Mobiltelefons). Aus jedem Detail einer Fassade, aus jeder Ecke der Wohnräume meldeten sich die Bedeutungen. Selbst ein Büfett konnte nicht ohne einen Namen wie „der reiche Fischzug“ aufgestellt werden; als Schrank stand gleich daneben „die verwunschene Prinzessin“. Kein Wunder, dass Adolf Loos von dieser Tischgesellschaft – oder besser: Tischkomplizenschaft – nichts Gutes erwartete: „Wenn ich ein Stück Pfefferkuchen essen will, so wähle ich mir eines, das ganz glatt ist, und nicht ein Stück, das ein Herz oder ein Wickelkind oder einen Reiter darstellt, der über und über mit Ornamenten bedeckt ist.“ Diese wenigen Beispiele sprechen eine hinreichend deutliche Sprache: die Opfer der viktorianischen „Fürsorge“ wurden in allerhand Zierrat und Geschnörkel eingewickelt. Immer neue Herzen, Kinder und reitende Abenteurer mussten der Freudlosigkeit dargebracht werden, zugunsten einer Hoffnungslosigkeit, die auch damals als der Subtext der überallhin ausgebreiteten Bedeutsamkeit nicht wirklich benannt wurde (es ist heute mit dem Sinn der Massenunterhaltung, die ja überwiegend einen moralisierenden und belehrenden Auftrag verfolgt, nicht viel anders).
Dass der Pfau sich in dieser Epoche als ein Möbel der heimischen Welt so großer Beliebtheit erfreute, ist andererseits kein Zufall. In den Akademien war der eindrucksvolle Vogel als Attribut der Juno oder Hera verzeichnet, eine Überlieferung aus der Antike, die es durch Mittelalter und Renaissance bis in die Bildwelt der Industrialisierung geschafft hatte. Die gebildete Schicht erging sich gern im umständlichen Lesen der Zeichen; auf dem Gebiet der verschlüsselten Bedeutungen war das 19. Jahrhundert so eloquent wie kaum ein anderes. Doch selbst wenn der Pfau nicht mehr den ganzen Reigen seines mythologischen Hintergrund aufzuziehen vermochte, er hielt zumindest die Vorstellung wach, wie Formen weiblicher Pracht mit königlicher Macht und Herrschaft vermischt werden konnten. Juno war im alten Italien die Göttin der Geburt und des ehelichen Bündnisses. Genau wie die griechische Hera saß sie als Gemahlin neben der mächtigsten Figur des Götterhimmels auf dem Thron. Etliche ihrer Geschichten handeln allerdings nur davon, wie sie die Leidenschaften ihres Gatten im Zaum zu halten versucht, zumal sie überwiegend nicht ihrer Person galten. Seine Seitensprünge, ebenso erfindungsreich wie zahllos, standen im scharfen Kontrast zur eigenen sexuellen Aktivität, von der eher wenig berichtet wird. Sie ist letztlich eine vergleichsweise blasse Figur und selten auf erotische Abenteuer aus, auch wenn der Schweif des bedächtig ausschreitenden Pfaus allerhand Erregung und Bereitschaft signalisiert. So gesehen passt Juno zum Besen der englischen Viktoria, die nicht nur den außerehelichen Verkehr sondern überhaupt jede Freizügigkeit und körperliche Lust aus ihrem Reich verbannen wollte.
Emmanuelle nimmt also in einem Zeichen Platz, dem es an Codierungen nicht fehlt. Neben den viktorianisch puritanischen, den stilistischen und den mythologischen Konnotationen wären die häuslichen noch genauer zu benennen, die Atmosphäre der Veranda, des Übergangs in den Garten, wohin das Reich der eingefangenen Frau sich öffnen darf. Ein wenig Licht und Luft dringt mit dem Stuhl ins Innere vor, Erholung vom Druck in den stickigen Kleidern. Für den Salon macht er schon zu viel Wind. Im Wintergarten, auf halbem Weg ins Freie, hat er seinen Platz und eine Funktion, spinnt sein Nest und bietet Schutz, wo es die Wände nicht mehr tun. Weiter als in den abgeschirmten Bereich hinter dem Haus führt die große Geste im bürgerlichen Kontext nicht. Die Möglichkeiten sind in der familiären Ordnung so fest geknüpft wie die Struktur der Rückenlehne in ihrem Rahmen. Nur wenn sich – und das wird offensichtlich im 20. Jahrhundert gern ausprobiert – nackte Beine unter dem fulminanten Bogen bewegen, bekommt er etwas von einem hochgeschlagenen Rock, eine Vaudeville-Stimmung.
Wer gleich eine ganze Runde von diesen Stühlen aufbaut, will möglicherweise ein Reich der Frauen etablieren oder gleichgesinnte Göttinnen bei sich zusammenziehen, als Forum für die Entmachtung des Einsamkeitssystems. Bleibt die Frage, was in diesem Rahmen mit dem Schweif seiner Bedeutungen geschieht. Bis zu einem gewissen Grad kann das Erbe umgeschrieben oder verschoben werden: aus der Drohung der Vereinsamung wird der Ausschluss des Mannes, aus der Erinnerung an den eingezäunten Garten das Regelwerk der Gruppe und aus der Verehrung des arbeitsintensiven Handwerks der dicht geknüpfte Begriffsteppich der Theorie. Mit den Juno-Eigenschaften aber kommt die entscheidende Differenz in diese Erbschaftsangelegenheit: geht es um die Abschaffung des Herrschaftszeichens oder um gegenseitige Kontrolle? Letzteres könnte der Gemeinschaft das Recht zusprechen, sich in die intimsten Wünsche einzumischen und sie zu regulieren – kein unbedeutender Unterschied. Bekanntlich zählt die Einführung der Geschlechtertrennung (und in der Folge eine rigorose Kontrolle der Aufnahme von Beziehungen zwischen den Geschlechtern) zu den ersten Maßnahmen, die fanatische Organisationen, autoritäre Regime und Diktaturen im Zuge ihrer Etablierung einleiten. Die Akteure wissen, wie wichtig dieser Zugriff für die weiteren Schritte in eine Kriegs- und Opferkultur ist. Die Sabotage der Verbotsstrukturen, die im Rahmen des Puritanismus nur eine erste Probe ihres Nutzens abgeben, kann also vor dem Herrschaftszeichen selbst nicht Halt machen.
Dieser Unterschied ist auch für Emmanuelle und den Pfau entscheidend. Als laszive Anti-Vierge mochte sie behaupten, die Entweihung eines Symbols der Zwanghaftigkeit sei ihr Anliegen, Blasphemie im Reich der puritanen Empfindsamkeit. Bei ihrer Thronbesteigung hatte sie den Elan der rebellischen Jugend hinter sich. Bleibt der Frage, ob sie dort angekommen, als eine neue Juno gefeiert werden will. Dass sie diesen hohen Rang nur im Diana-Kostüm gegenüber einer Gruppe jungfräulicher Nymphen halten will, wie eine lesbische Prinzessin, eine Drag-Queen oder als die Mother einer Family, ist letztlich egal. Die Zeremonien und Rituale dieser Art sind im gesellschaftlichen Ganzen eher unbedeutend und finden an unbekannten Höfen oder in verborgenen Höhlen statt; sie führen dennoch auf einen Schauplatz, der das Individuum darauf ausrichtet, sich in eine hierarchische Ordnung einzufügen, und sein Verhalten entsprechend trainiert. Die Verehrung für den geliebten Anderen wird in einen Stoff für die Anerkennung von Macht umgewandelt oder (da das Wort so beliebt ist) missbraucht: für Unterwürfigkeit und Respekt nach oben, Ungnädigkeit und Versagung nach unten.
Thomas De Quincey konnte noch die ersten 20 Jahre der imposanten Victoria auf dem englischen Thron erleben. Er gehörte zu einer Generation, die sich mit allerhand Spaziergängen, Klamotten und Umständlichkeiten herumschlagen musste, wenn sie auf dem Weg des Vergnügens ein wenig vorankommen wollte. Thomas Carlyle, ein etwas jüngerer Landsmann, schrieb ein ganzes Buch über die „Philosophie der Kleidung“, ebenfalls mit einem amüsierten Seitenblick auf den Ernst der deutschen Philosophie. Ohne die Sache direkt zu behandeln, berührt De Quincey in dem Kapitel „Der Palimpsest“ auch die Frage nach der Serie und der Serienproduktion. Wie die Etymologie des Wortes serie verrät, ist das Phänomen mit dem Ackerbau verbunden, kommt dann mit Tonwaren einen wesentlichen Schritt in Richtung „Drucktechnik“ voran, bis nach Verbesserungen in der Papierherstellung, aufgrund von Kenntnissen, die langsam vom Süden her in Europa einsickerten, der Buchdruck möglich wird, Vorform der industriellen Produktion und des Fließbandes, das uns am Ende des 19. Jahrhunderts erwartet.
Damit scheint es auch in der Kunst zu einem Quantensprung zu kommen; jedenfalls gibt es allerhand Theorien, die davon ausgehen, dass die technische Reproduzierbarkeit auf diesem Gebiet einiges verändert hat, vielleicht einem Sündenfall vergleichbar, der die Kunst aus dem Paradies des Originals vertrieb. Die Argumente waren faszinierend, aber sie konnten nicht wirklich erfüllen, was sie versprechen wollten. Das Beispiel, an dem Thomas De Quincey seine Überlegungen entfaltete, hilft in dieser Hinsicht vielleicht weiter: er durchleuchtete ein Phänomen der vorindustriellen oder handwerklichen Produktion von Texten und verstand es als ein Bild für die Erinnerungen, die im Leben eines Menschen zwar langsam versinken und schwächer werden, aber niemals restlos verschwunden sind. So wie auf den Seiten eines alten Buches die Figuren eines Ritterromans sich mit den zurückkehrenden Dialogen einer antiken Tragödie vermischen, so wartet eine Erinnerung auf den Moment, in dem sie noch einmal berührt und wieder aktiviert wird, um unversehens als Erlebnis in die Gegenwart zu stehen. In diesem Buch ( dem Buch ‚To grace the plinth‘) ist der Pfauenthron das Pergament, auf dem die verschiedenen Akteure mit ihrem Absichten Platz genommen haben. Sie entwickeln alle möglichen Facetten und Farben, ohne dass der Platz selbst sich entscheidend verwandelt; er macht in seiner Reihung allerdings sichtbar, was er mit sich bringt und unter welchen Bedingungen eine Vorprägung verändert werden kann.
english version coming soon